Jüdin Hessy Taft (80) aus Berlin erzählt ihre bewegende Geschichte: Ich war Hitlers Propaganda-Baby

Ein Fotograf reichte ihr Bild 1935 zum Wettbewerb ein. Gesucht wurde ein typisch deutsches Kind

Von: Von ADI SIDON

„Jetzt kann ich darüber lachen. Aber hätten die Nazis erfahren, wer ich wirklich bin, wäre ich heute nicht am Leben.“

Hessy Tafts Geschichte ist so alt wie sie selbst. Vor 80 Jahren wurde sie im Dritten Reich als schönstes Arier-Baby gefeiert. Mit Pausbäckchen, staunenden Kulleraugen und Häkelmützchen gewann ihr Foto einen Wettbewerb, den Propaganda-Minister Joseph Goebbels höchstpersönlich ausgelobt haben soll.

Dass Hessy Taft Jüdin war – genau wie ihre Eltern – wusste keiner der Nazis, die ausgerechnet ihr Bild aussuchten!

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Hessys Eltern kamen 1928 von Lettland nach Berlin. In ihrer Heimat hatten sie Klassische Musik studiert, in Berlin bekamen sie Gesangs-Engagements an der Oper. Gerade mal sechs Monate alt war die kleine Hessy, als Mama Polin Levinson sie 1935 zum Familienfotografen brachte.

Hessys Eltern waren da schon keine gefeierten Opernsänger mehr. Längst hatte man sie ihrer jüdischen Herkunft wegen von allem kulturellen Leben abgeschnitten. Es ist eine grausame Zeit, in der die Nazis in Berlin Juden verfolgen, sie entrechten.

Hitlers Schergen haben das Leben des Expressionisten Max Liebermann auf dem Gewissen, der sich genau in diesem Jahr entscheidet, zu sterben, weil er das Berufsverbot nicht mehr erträgt. Jüdische Verleger werden enteignet, auf dem Kudamm gibt es schwere antisemitische Überfälle.

Doch ein Baby-Foto ist im Berlin 1935 immer noch wichtig. Das Studio des Fotografen Hans Ballin ist bekannt. Und Ballin muss um das Schicksal der Levinsons gewusst haben. Wie schwer es für Hessys Vater nun ist, als Klinkenputzer eines landwirtschaftlichen Unternehmens mühsam die Familie zu ernähren.

Wenige Monate nach dem Fototermin machen die Levinsons eine unglaubliche Entdeckung. Ihr Töchterchen prangt riesengroß auf dem Titel des Familienmagazins Sonne ins Haus“. Eine Nazi-Postille, herausgegeben von Kurt Herrman, ein überzeugter Nazi und Göring-Freund.

Hessys Mutter ist erschüttert, traut sich mit dem Kind nicht mehr auf die Straße. Zu groß die Gefahr, entdeckt zu werden. Denn das gefeierte Vorzeige-Arier-Baby Deutschlands ist jüdisch. „Sie fragte den Fotografen, was er sich dabei gedacht hätte, das Foto einzureichen“, sagt Hessy Taft heute, „er wisse doch, dass wir Juden sind.“

Und der Berliner Fotograf antwortet: „Ich weiß, aber ich wollte die Nazis lächerlich machen.“

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Der Propaganda-Gau wurde nie aufgedeckt. Noch als Hessys Vater 1938 kurzzeitig von der SS verhaftet wurde, schickten sich die Arier-besessenen Nazis Postkarten mit Hessys Babybild durchs Dritte Reich hin und her. Im selben Jahr wanderte die Familie nach Paris aus, als die Nazis auch dort herrschten von dort nach Kuba und 1949 in die USA aus. Hessy Levinson heißt heute Hessy Taft, ist Chemie-Professorin in New York.

Vor wenigen Tagen überreichte sie der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem die Zeitschrift mit ihrem Babyfoto. Hochachtung“, hat sie heute für den Fotografen. „Und ich empfinde ein bisschen Rache, so etwas wie Genugtuung“, sagt sie.

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